"Sitz im Leben" der Lyrik
Liebe Lyrikfreunde!Mich beschäftigt seit einiger Zeit eine Frage: Wie gehen wir mit Lyrik oder mit Gedichten um? Wir lesen sie in einem Buch oder - wie hier - auf dem Monitor - ... und dann?
In anderen Kulturen - und auch in religiösen Gemeinschaften - ist der "Sitz im Leben" der Lyrik die Gemeinschaft. Zu festlichen Anlässen oder zu sozialen Zusammenkünften wird Lyrik rezitiert ... entweder neue oder bekannte kanonisierte Lyrik. In Persien ist dies z.B. der Divan des Hafiz. Wenn man es genau nimmt, hat auch in der christlichen Religion die Lyrik ihren Platz: ein Teil des Gottesdienstes und des klösterlichen Stundengebetes ist nichts anderes als rezitierte oder gesungene Lyrik.
Auch in der hiesigen säkularen Kultur war der Sitz im leben der Lyrik die soziale Zusammenkunft: ob es nun der Parzival des Wolfram v. Eschenbach oder das Nibelungenlied waren: Es sind eine Art Soap Opera in Form gesungener bzw. rezitierter Lyrik gewesen. Noch im 19. Jahrundert und in letzten - dekadenten Resten - bis ins 20.Jahrhundert gab es in der bürgerlichen Kultur die Tradition der Lebenden Bilder mit begleitender Rezitation oder Rezitationsabende.
Deren Niveau stieg natürlich immer mehr ins hohle - oft nationalistische und deklamatorische - Pathos ab. Und heute ist davon vielleicht nur noch das lustlose Aufsagen von Verslein unterm Weihnachtsbaum für den Weihnachtsmann geblieben.
Für mich persönlich erblüht das lyrische Wort erst dann, wenn es gesprochen wird ... auch bei den in dieser Gruppe geposteten Gedichten, die ich übrigens - bis auf eine Ausnahme - alle sehr gerne gelesen und gesprochen habe ...
Meine Frage nun: Wie geht Ihr mit gedichten um? Wo ist für Euch der "Sitz im Leben" der Lyrik? Lest Ihr Gedichtsbücher durch? Laut? Leise? Oder sucht Ihr Euch gedichte aus? Lest Ihr Gedichte mehrmals? Lest Ihr sie metrisch (sofern das geht) oder eher inhaltlich bestimmt?
Bei mir ist der "Sitz im Leben" eine ruhige Stunde, wenn ich ganz allein bin. Dann suche ich mir aus einem Gedichtband oder einer privaten sammlung ausgedruckter Gedichte ein Gedicht aus, dass ich dann meist in verschiedener Art - metrisch, rhythmisch, inhaltlich - rezitiere. So vertiefe ich mich in den Wortkörper des Gedichtes, und so erschließt sich mir auch meist dessen Sinn. (Ja, manchmal kann der Weg zur Seele auch über den Körper gehen.)